Zeitzeugenbericht Bosch, Robert

Meine Familie lebt seit 1730 in Kaltental. Zu dieser Zeit kamen unsere allerersten Vorfahren als Taglöhner aus Bernhausen in die damals noch selbständige Gemeinde. Eine Witwe mit ihrem 14jährigen Buben. Mein Großvater war von Beruf Klaviermechaniker und Vorstand vom Männergesangverein Kaltental. Sie wohnten in der Schwarzwaldstraße 61. Das Haus gibt es heute noch.
Kaltental bestand früher noch aus dem Oberweiler, dem Unterweiler und dem Schlossberg. Es war aber ein anderes Kaltental als heute. So gab es noch eine richtige Infrastruktur. Alles, was man zum Leben brauchte, hatte man vor der Haustür. Geschäfte, Gewerbebetriebe und auch Gaststätten. Wenn ich nur dran denke, wie viele Gasthäuser es vor dem Krieg in Kaltental gab. Damals hatten die Wirtschaften natürlich auch eine andere Bedeutung als heute. Man ging da nicht zum Essen hin. Das hätten sich die Leute auch gar nicht leisten können. Sondern, um Neuigkeiten aus dem Dorf zu erzählen und zu erfahren. Es gab ja keine Fernseher und kein Radio. Also hat man dort eben sein Bier getrunken und sich ausgetauscht. Wobei das ja eigentlich nur die Männer waren, die in die Wirtschaft gingen. Die Frauen waren zu Hause und kümmerten sich um den Haushalt und die Kinder. Große Auswirkungen auf die Gaststätten hatte in den 20er und 30er Jahren die schwere Inflation. Und in deren Folge die Weltwirtschaftskrise. Da waren viele Menschen arbeitslos und hatten kein Geld für die Wirtschaft. Auch nicht mehr für ein Bier. Da ging es oft ums nackte Überleben. Ähnlich war das nach der Währungsreform 1948. Da hat jeder 40 Mark auf die Hand bekommen und später nochmals weitere 20 Mark. Für einen Besuch in der Gaststätte war in den Anfangsjahren nichts mehr übrig.

Zeitungsartikel 30er Jahre zum Abriss der Krone. Quelle: Familie Willhaus, Kaltental
Ganz bekannt in Kaltental war etwa das Gasthaus Krone. Dort, wo heute die BW-Bank mit dem Dreiecksplätzle ist. Ich erinnere mich noch, wie es 1938 abgebrannt ist. Man hatte das Haus für eine Feuerwehrübung angezündet. Ich kam gerade aus den Ferien und habe zugeschaut. Die Krone wurde vom Vater vom Max Eller geführt. Als es die Krone dann nicht mehr gab, hat er um 1950 im ehemaligen Marmorgeschäft Speier im Oberweiler eine neue Gaststätte eröffnet. Die hieß dann passender Weise auch Oberweiler. Heute sind da Wohnungen drin. Der Franz Bertsch hatte das Lokal Reisenen hinter dem Eissee am Ende der heutigen Schwarzwaldstraße. Die hieß damals noch Gass‘. Und dann gab es noch das legendäre Waldhorn von Lisa und Karl Nagel. Dort, wo heute das Blattwerk ist. Das

Gasthaus Waldhorn auf einer Postkarte aus den 30er Jahren. Quelle: Frank Zimmermann, Kaltental.
Waldhorn war auch das Probenlokal der Handharmonikafreunde Kaltentaler (HFK). Immerhin 24 bis 25 Spieler hatten die im Durchschnitt. Leiter war der Herr Georgi. Mein Schwager Helmut Molt hat mitgespielt, und der Heinz Lutz auch. Aber ab wann und wie lange der Verein existierte, weiß ich auch nicht mehr. Das Gebäude hat den Krieg sogar überlebt und wurde dann in den 50er Jahren wegen der Verbreiterung der Hauptstraße abgerissen. Danach durften sie es nicht mehr aufbauen. Na ja, war auch ein altes Haus.

Das Gasthaus Kühler Grund gehörte dem Ruffner. Es wurde im Krieg durch eine Bombe zerstört. Sein Bruder führte die Waldsiedlung auf dem Schlossberg. Auch das Lamm ist im Krieg verloren gegangen. Ebenso wie der Adler der Familie Hörz an der Ecke Schwarzwald-/ Frechstraße. Da hat auch gebrannt. Ja, der Krieg hat viel von der alten Struktur in Kaltental zerstört. Und dann gab es noch den Hirschen, die Burggaststätte („Sicha“ hat man gesagt), die Reutte, den Schaber und das Schlossbergcafé. Die sind heute alle weg. Die einzige Wirtschaft, die es noch gibt, ist der Schwanen in der Feldbergstraße. Die Besitzerin war die Schnapsmarie, weil sie so gute Schnäpse hatte. Der Turnverein wurde im Garten vom Schwanen gegründet. Aber gerade ist er leider auch geschlossen. Das älteste Haus in Kaltental ist übrigens das Haus Seher in der Feldbergstraße 48, gegenüber dem Kindergarten.

Am 01.02.1932 bin ich in der Hebammenschule in Stuttgart-Berg geboren worden. Meine Eltern lebten seit 1930 im Haus vom Flaschner Füess in der Berneckstraße 20. Dort habe ich meine Kindheit verbracht. Zusammen mit meinen beiden Zwillingsschwestern, der Hannelore und der Margret. Mein Vater war von Beruf Kunstschlosser. Er hatte aber einen schweren Motorradunfall und wurde danach nie wieder richtig gesund. Also musste er als Hilfsarbeiter die Familie ernähren. Aber das hat natürlich nicht gereicht. So hat auch Mutter arbeiten

Stuttgarter Zeitung 50er Jahre. Quelle: Familie Willhaus, Kaltental
müssen, um die Familie über die Runden zu bringen. Sie hatte einen kleinen Ölhandel und ist mit einem Wägele durch Kaltental gelaufen. Manchmal sogar bis rauf in den Sonnenberg. Und nebenbei hat sie noch bei reichen Leuten den Haushalt geführt. Wenn ich von der Schule gekommen bin, durfte ich zur Schwester Emma Götz. Ihr Vater besaß einen Bauernhof auf dem Hang zwischen der Feldbergstraße und der heutigen Gallusstraße. Im Streit hatte er einen Juden erschlagen und ihn im Keller in einem Mostfass vergraben. Deshalb hießen die Kaltentaler damals auch Judenhenker.

Einkaufen konnten wir gleich ums Eck. Das war wirklich praktisch. Die Metzgerei Bertsch an der Ecke Schwarzwaldstraße/ Feldbergstraße war gerade mal ein Haus weiter. Der Nachfolger war der Metzger Wörthwein und zum Schluss der Metzger Braun. Heute sind auch dort Wohnungen drin. Wer Fleisch oder Wurst kaufen möchte, muss runter nach Stuttgart oder rauf nach Vaihingen. Gerade für uns alte Leute ist das nicht immer einfach. Und direkt ums Eck in der Frechstraße 1 bis 5 waren gleich drei Geschäfte. Der Kolonialwarenladen von Herrn Bauer, der Gemüseladen von Herrn Walter und der Schneider Klaus. Damit waren auch schon die wichtigsten Einkäufe erledigt.

Gebiet Waldeck mit zerstörter Milchkuranstalt Widmann nach dem Bombenangriff März 1943. Quelle: Frank Zimmermann, Kaltental
Heizmaterial kam von der Kohlenhandlung Groß im Mühläcker. Das war das kleine Gebiet zwischen der Feldbergstraße und der Ruhesteinstraße. Dort, wo heute das komische schräge Häusle steht. Und dann gab es noch die drei Kohlenhändler Bosch, Sammet und Widmann. Die haben ihre Kohlen vom Vaihinger Bahnhof geholt und dann mit Pferdefuhrwerken und LKW nach Kaltental gefahren. Aber meist hat man eh mit Holz geheizt. Kohlen waren teuer und die Leute arm. Man hat dafür mühsam die Wurzeln aus geschlagenen Bäumen freigelegt und rausgeschlagen. „Stumpa graba“ nannte man das. Die Stumpen gaben immer zweimal warm. Beim Rausheben und beim Heizen. Ja, das waren harte Zeiten. Und die Winter waren auch viel kälter als heute. Man hat damals aber auch anders gelebt. Das Leben fand meist in der Wohnküche statt. Nur die hat man richtig geheizt.

Ein großer Betrieb in Kaltental war die „Milchkuranstalt Widmann“ am Waldeck. Die hatten über 50 Rindviecher im Stall stehen. Später hieß es „Molkerei Paul Widmann“. Das war damals ein ganz moderner Betrieb mit Flaschenabfüllung. Der Paul Widmann war gleichzeitig auch einer der größten Viehhändler in Stuttgart. Und einen Steinbruch hatte er auch noch. Heute ist in dem Gebäude ein Fliesenhändler drin. Direkt daneben war die Gaststätte Waldeck. In dem Backsteingebäude, wo heute der Auto Herdi ist. Da war auch die Saftfabrik Allgayer und später dann die Fleischfabrik Gaismeyer drin.

Durch den vielen Sandstein gab es in Kaltental auch viele Steinbrüche. Das war früher ein großer Wirtschaftszweig. Mindestens sechs Steinbrüche hatte es in Kaltental. Einer war da, wo heute das Kohlhau ist. Im „Supperdörfle“ gab es auch einen Steinbruch. Dort, wo bis vor wenigen Jahren das Hotel Dachswald stand. Besitzer war der Elektriker Lutz. An der Böblinger Straße gegenüber vom Langen Bau war auch einer. Da, wo heute die Stadt Stuttgart ihre Kuttereimer stehen hat. Im Museum am Löwentor sind sogar 22 junge Dinosaurier zu sehen, die man beim Sprengen im Bereich Billert gefunden hat. Auch beim Sandäcker war einer. Dort, wo heute das Gradmannhaus ist. Und hinten beim Zimmerer Zierer sowie einen auf dem Schlossberg beim heutigen Imberger Weg.

Eine neue Volksschule hatte Kaltental auch. Die wurde in den Zwanzigerjahren in der Fuchswaldstraße gebaut, die zu dieser Zeit aber noch Lindenstraße hieß. Davor war die Schule in der Böblinger Straße 477. Dort, wo später dann über viele Jahre die Post war. Mit der Schule und mir war das ja ohnehin so eine Sache. Eigentlich bin ich fast genauso dumm aus der Volksschule rausgekommen wie ich reingekommen bin. Denn es war Krieg in Deutschland. Und wegen der ständigen Luftangriffe sind wir pausenlos in den Keller gesprungen. Wahrscheinlich waren wir häufiger im Keller als im Klassenzimmer. Und da war dann halt nicht viel mit Lernen. 1938 bin ich in die Schule gekommen. Da war ich 6 Jahre alt. Die Klassen 1 bis 4 wurden damals gemeinsam in Kaltental unterrichtet. In den Klassen 5 bis 7 war ich dann schon in der Kinderlandverschickung in Altheim bei Horb.

Postkarte aus den 30er Jahren. Quelle: Frank Zimmermann, Kaltental
Schon ein Jahr nach meiner Einschulung begann 1939 der Krieg gegen Polen. Die Auswirkungen hat man auch in Kaltental sehr schnell gemerkt. So wurden gleich 1939 die Lebensmittelkarten eingeführt. Ab da wurde es immer weniger mit dem Essen. Während der Besatzungszeit wurde es langsam wieder etwas mehr. Die Karten gab es bis 1949. Und 1940 haben die Deutschen Frankreich überfallen. Ich erinnere mich noch, dass das in Stuttgart stationierte Infanteriebataillon 119 nach dem Sieg durch Kaltental marschiert ist. Die kamen vom Bahnhof Vaihingen runter und haben gesungen „Siegreich haben wir Frankreich geschlagen“. Aber das mit dem Siegen hatte sich bald erledigt.
Denn schon 1941 sind die ersten Bomben auf Kaltental gefallen. Das war in der Feldbergstraße. Zwischen dem Gasthaus Schwanen und dem Pfarrhaus. Da kamen viele Leute von der Stadt zum Gucken. Aber das waren nur ganz kleine Löchle von einem halben Meter Tiefe. Da haben die alle noch gelacht, die Kaltentaler. Aber nicht mehr lange. Denn nur zwei Jahre später kamen dann die ersten richtigen Bomben auf Kaltental und brachten Tod und Zerstörungen über unser kleines Dorf.

Dass die Bomberflotten eine große Gefahr für die Stadt und die Menschen waren, hatte man in Stuttgart schnell erkannt. So hat die SS im März 1943 den Hasenbergturm gesprengt. Damit die anfliegenden alliierten Flugzeuge keine Orientierung haben. Geholfen hat es aber nichts. Der schöne Turm war weg und Stuttgart lag wenig später trotzdem in Schutt und Asche.

Postkarte aus den 30er Jahren. Quelle: Frank Zimmermann, Kaltental
Schutz vor den Luftangriffen gab es für die Kaltentaler am Anfang kaum. Viele Häuser hatten zwar Gewölbekeller, die recht sicher waren. Aber einem Volltreffer haben sie nicht standgehalten. Das wusste jeder. Trotzdem sind wir da alle rein. Mensch und manchmal auch Tier. Ich weiß noch, dass die Johanna Reutlinger sogar ihre Geißen mit in den Keller genommen hat. Die wohnte gleich nebenan im Eckhaus an der Berneckstraße bei den Familien Kagerer und Rössle. Das mit den Geißen mag heute lustig klingen. Aber damals war es bitterer Ernst. Denn die Tiere waren oft der einzige Besitz der kleinen Leute.

Mit den bestehenden Bunkern kam man auch nicht weit. Das war schnell klar. So war der Bunker in der Evangelischen Kirche eigentlich nur ein Luftschutzraum. Erst später kamen die ersten richtigen Bunker in Kaltental. Beim Zahnarzt Hobbach haben sie einen tiefen Stollen gegraben. Dort, wo heute die Papeterie ist. Und beim Schmied Rempp in der Böblinger Straße 461 hat man den alten Fluchtstollen der Burg Kaltental aufgebrochen. Ich glaube, den Gang gibt es heute noch. Unsere Familie ist beim Luftalarm aber immer in den Stollen beim Waldhorn. Der war am schnellsten zu erreichen. Die Staffeln bei der Kirche runter in die Schwarzwaldstraße. Und dann geradeaus weiter in den Garten von der Familie Winter/ Ruffner. Oberhalb vom Bauern Kühlkopf in der Schwarzwaldstraße 12. Da war dann der Eingang. Der Stollen ging rüber zum Waldhorn und dann rauf zum Gasthof Adler. Den haben die Kaltentaler sich selbst bauen müssen. Ich habe als Bub selbst mitgegraben. Das war eine schwere Arbeit mit dem harten Felsgestein. Man hat sogar sprengen müssen. Ich erinnere mich noch, dass mit Boschhämmern Löcher gebohrt wurden. Und dann hat man Dynamitstangen reingeschoben und sie gezündet. Das hat ziemlich geknallt. Innen hat man den Sandstein mit Holz abgestützt. Wir sind immer rein, wenn die Sirene gegangen ist. Und das war häufig. Ich hatte immer meine

Gasthaus Adler Ecke Schwarzwald-/ Frechstraße: Quelle: Bürgerinitiative Kaltental
beiden Schwestern im Rucksack, als wir in den Stollen gerannt sind. Und nach dem Angriff musste ich raus und im nächsten Bunker Meldung machen. Ob alles in Ordnung war. Oder eben auch nicht. Etwa, wenn es jemandem nicht gut ging. Es gab ja auch keine Ärzte mehr, die helfen konnten. Wir waren alle auf uns alleine gestellt.

Am 11.03.1943 war der schlimme Luftangriff auf Kaltental. Da gab es viele Tote. Ich weiß noch, dass ich am Tag zuvor mit Kindern aus der Ruhesteinstraße gespielt hatte. Am nächsten Tag waren sie alle tot. Auch die Kirche wurde von einer Bombe getroffen und hat gebrannt. Ich war damals mit meiner Mutter und den beiden Schwestern im
Kaltentaler Rathaus an der Böblinger Straße im Jahre 1942. Quelle: Stadtarchiv Stuttgart.
Luftschutzraum unten in der Kirche. Mein Vater ist nie mit in den Bunker. Er saß immer oben auf der Bühne und hat auf das Haus aufgepasst. Damit er notfalls schnell löschen kann. Als die Kirche dann einen Volltreffer bekommen hat und anfing zu brennen, mussten wir alle schnell raus. Der Turm ist zusammengestürzt und der Gockel von oben mit einem riesigen Schlag runtergefallen.

Ja, die Bomben waren eine arge Plage. Da waren manchmal auch Brandbomben mit Phosphor dabei. Der hat ab einer bestimmten Temperatur angefangen zu brennen und war dann kaum noch zu löschen. Später haben sie sogar noch welche abgeworfen, die explodiert sind. Das war besonders gefährlich für die Leute, wenn sie die Brandbomben löschen wollten und die Dinger dann losgingen. Unser Haus in der Berneckstraße wurde bei dem Bombenangriff beschädigt, konnte aber wieder repariert werden. Nach dem zweiten Angriff 1944 war es unbewohnbar. Wir haben dann übergangsweise in der Ruhesteinstraße gelebt.

Bei der Hitlerjugend war ich auch. Da konnte man ab 10 Jahren eintreten. Die war im Haus vom Schumacher Bernlöhr an der heutigen Belchenstraße, oberhalb vom Geisenrainle. Unten der Schumacher und oben das Jungvolk. Man hat den jungen Leuten natürlich erzählt, was ihnen gefallen hat und was sie hören wollten. So hat man sie angelockt. Spiele angeboten und solche Sachen. Zum Leidwesen meines Vaters bin ich immer gerne dahin gegangen. Es war ja immer was los. Und so viele Freizeitangebote wie heute gab es damals für die jungen Leute nicht. Das hat der Staat natürlich für sich ausgenutzt. Jungen Menschen sind halt schnell zu begeistern. Auch vom Krieg. So hatte ich mich schon mit 11 oder 12 Jahren als Marinekadett gemeldet. Es ist dann aber doch nichts draus geworden. Der Krieg hatte ja einen anderen Verlauf genommen, als wir erwartet haben. Die Deutschen haben ihn angefangen und verloren. Da war nichts mehr mit großer Karriere bei der Marine.

Von der Verfolgung der Juden in Kaltental habe ich nichts mitbekommen. Ich war auch noch ein Kind. Wir kannten auch nur einen einzigen Juden aus dem Judenhaus in der Schwarzwaldstraße. Der war körperlich behindert und saß in einer Art Rollstuhl. Ich weiß noch, dass er einen gelben Judenstern getragen hat. Wir Kinder haben ihn immer den Buckel hochgeschoben. Aber irgendwann kam dann raus, dass er gar nicht krank war. Der hat nur krank gespielt und sich an den Kindern vergangen, die ihm mit seinem Karren geholfen haben. Auf der Flucht vor den Polizisten ist er dann das Geisenrainle runtergesprungen. Und zwar ohne sein Wägele. Der konnte plötzlich richtig rennen.

Aber ich war während des Krieges auch nicht die ganze Zeit in Kaltental. Denn 1943 hatte der Hitler seine Kinder von der Stadt aufs Land geschickt. Ich kam nach Altheim bei Horb am Necker. Zum Schwanenwirt. Und während dieser Zeit habe ich oft beim Bauern mitgeholfen. Der hatte 23 Gäule, die vorher im Krieg waren. Die kamen von der Front zurück und waren völlig verängstigt und ausgemergelt. Wir Buben haben die Gäule auf dem Sportplatz in Altheim rumgeführt. Die wurden aufgepäppelt und mussten dann wieder in den Krieg. Wie die Soldaten im Lazarett. Kaum waren sie wieder halbwegs gesund, ging es wieder zurück an die Front.

Altes Schulhaus und spätere Post an der Böblinger Straße im Jahre 1942. Quelle: Stadtarchiv Stuttgart.
Während dieser Zeit in Altheim haben die Deutschen mal einen Tiefflieger abgeschossen. In den Trümmern lag dann auch Plexiglas aus der Pilotenkanzel. Sowas kannten wir nicht. Und die Munition lag natürlich auch überall rum. Wir haben das Plexiglas angezündet und die Munition draufgelegt. Und dann hat es kräftig gerumst.

Die Erfahrung mit den Gäulen kam mir wenig später zu Gute. Denn als der Krieg zu Ende ging und die alliierten Truppen immer näherkamen, wollte ich nach Hause zur Mutter. Ich hatte schreckliches Heimweh. Nur war das nicht so einfach. Man konnte nicht wie heute in den nächsten Zug steigen oder einen Bus nehmen. Die Infrastruktur war völlig zerstört. Ich hatte keine Ahnung, wie ich zurück nach Stuttgart kommen sollte. Aber ich bin einfach mal los. Die Gastmutter hatte mir vorher noch ein Essenspaket mit auf den Weg gegeben. „Damit Du die Soldaten schmieren kannst auf dem Weg zurück nach Stuttgart“, sagte sie noch. Ich kam dann in einen Wagen rein. Da saßen Soldaten drin. Ein Offizier hat mich gefragt, ob ich ein Fuhrwerk mit vier Gäulen fahren könnte. Konnte ich! So bin ich dann in einem Konvoi von Horb nach Haigerloch gefahren.

Dort wusste ich aber nicht mehr weiter. Ein Offizier hat mich im Seitenwagen seines Motorrades auf die Hauptstraße Richtung Stuttgart gebracht. Dort hat er einen LKW angehalten. Der ist tatsächlich nach Vaihingen gefahren. Welch Glück! Aber natürlich saß ich nicht vorne im warmen Führerhaus, sondern hinten auf der Pritsche. Da standen ungefähr 7 bis 9 Särge. Erst später habe ich erfahren, dass da auch Tote drin waren. Den Fahrer habe ich mit Essen aus meinem Vorrat bezahlt. Am Schillerplatz fuhr er dann geradeaus nach Möhringen weiter. Und ich bin nach Kaltental runtergelaufen. Aber weit bin ich gar nicht gekommen. Nach ein paar Metern kam ein Fliegerangriff. Ich war gerade beim Bunker beim heutigen Fanny-Leicht-Gymnasium angekommen. Die Leute dort haben mich gleich einkassiert und in den Bunker gezogen. Da saß ich dann eine Weile. In einem unbewachten Augenblick bin ich abgehauen. Um Mitternacht war ich endlich Hause in Kaltental. In dieser Nacht haben die Deutschen auch den Nesenbach-Viadukt gesprengt. Es war der 21. April 1945.

Als ich dann am nächsten Morgen aufgewacht bin, war der Viadukt schon unten. Die französischen Panzer standen davor und kamen nicht weiter. Also sind sie eben außen herum über die Felder gefahren und kamen dann den Burggrafenweg runter. Wir sind dann alle den Bunker beim Waldhorn rein. Aber sie haben uns schnell gefunden. Plötzlich standen die ersten Marokkaner im Stollen. Sie haben sich gleich vor Ort die ersten Frauen und Mädchen rausgesucht und sie draußen vergewaltigt. Und alles gestohlen und geraubt, was sie gefunden haben. Uhren, Schmuck und natürlich die ganzen Tiere. Ja, die hatten zwei Tage völlige Narrenfreiheit. Es war furchtbar. Die Frau O. hatte ihren Buben auf dem Arm gehabt. Den haben sie ihr aus dem Arm gerissen und sie auch vergewaltigt. Nach diesen Vorkommnissen hat man die Frauen und Mädchen in die Schule gebracht und einen Posten davorgestellt. Dann haben die Vergewaltigungen auch aufgehört. Ich weiß noch, dass sie später in einem Garten an der Ecke Feldbergstraße/ Schwarzwaldstraße saßen und das Fleisch der gestohlenen Tiere gegrillt haben. Als eine Gruppe gefangener deutscher Soldaten vorbeikam, haben sie ihnen was zugeworfen. Lange waren die Franzosen aber nicht in Stuttgart. Am 8. Juli 1945 kamen die Amerikaner.
Nach dem Krieg habe ich kurz die Handelsschule am Hölderlinplatz besucht. Nicht, weil ich Steno lernen wollte. Sondern weil wir die Lebensmittelkarten brauchten. Danach habe ich meinen Realschulabschluss gemacht. Ab 1948 habe ich Feinmechaniker bei der Fortuna in der Pragstraße gelernt. Ursprünglich wollte ich auf die Maschinenbauschule nach Esslingen. Schließlich wurde ich Fernmeldemechaniker mit Beamtenanwartschaft. Aber mein eigentliches Leben hat sich viel im Sport bewegt. Ich war vom 14. bis zum 68. Lebensjahr beim VfL Kaltental aktiv und von 1984 bis 1996 Vorstand des Vereins. Dort war ich bei den Ringern. Meine Frau habe ich 1951 kennen gelernt. 1952 wussten wir, dass es ein Baby geben wird. Die Monika war das. An Weihnachten 1952 haben wir geheiratet. Morgens um 9 Uhr am Standesamt. Das war das letzte Mal, dass man an Heiligabend heiraten konnte. Nun sind wir 70 Jahre verheiratet. Und die Monika ist mittlerweile auch 70 Jahre alt. Ja, unser Leben war nicht immer einfach. Gerade am Anfang. Aber rückblickend war es doch ein gutes, reichhaltiges und erfülltes Leben.

Aufgezeichnet von Sören Hildinger