Zeitzeugenbericht
Ingrid Laukenmann, Jahrgang 1935
Geboren wurde ich 1935. Nicht in Kaltental, sondern im Stuttgarter Westen. Und zwar in der Zeppelinstraße. Aber schon 1939 sind wir dann nach Kaltental gezogen. Da war ich vier Jahre alt. Meine Eltern hatten in der Ruggerstraße 51 einen Bauplatz gekauft und darauf ein Haus bauen lassen. Eine Doppelhaushälfte mit direktem Blick auf die Thomaskirche.
Jedenfalls sind wir dann 1939 eingezogen. Wir, das waren mein Vater, meine Mutter, mein Bruder Rolf (Jahrgang 1933) und ich. Wobei der Vater eigentlich gar nicht richtig mit einziehen konnte. Denn 1939 war das Jahr, in dem der Krieg begann. Mein Vater war Funker und wurde gleich am Anfang des Krieges an die Ostfront nach Russland versetzt. Meine Mutter war dann alleinerziehend mit meinem Bruder und mir. Wie die meisten Frauen. Die Männer mussten ja alle in den Krieg. Die einen früher, die anderen später. Aber irgendwann waren sie alle weg. Und längst nicht alle sind wiedergekommen. Mein Vater ist zwar wiedergekommen, aber er war nicht mehr der Alte. Die schrecklichen Erlebnisse des Krieges und der Kriegsgefangenschaft hatten einen anderen Menschen aus ihm gemacht.
Der Krieg war im täglichen Leben schnell spürbar. Gerade bei den Lebensmitteln. Diese wurden zuerst knapp, und später gab es sie dann nur noch gegen Lebensmittelkarten. Oder überhaupt nicht. Denn ein Freibrief waren diese Karten auch nicht. Es gab einfach nichts. Und wenn doch, dann war man natürlich nicht der einzige, der was haben wollte. Andere hatten auch Hunger. Supermärkte wie heute gab es nicht. Das waren alles ganz kleine Geschäfte. In der Schwarzwaldstraße gab es zwei solcher Geschäfte. Dort, wo heute der Steuerberater Fuess ist, war ein Gemüsegeschäft. Und daneben ein Lebensmittelladen. Ich weiß noch, dass eines Tages mal das Gerücht durch Kaltental lief, dass es frisches Gemüse gäbe. Meine Mutter hat meinen Bruder und mich dann schnell

hingeschickt. Aber als wir ankamen, standen schon 20 Leute in der Schlange. Und als wir an der Reihe waren, war alles schon weg.
Wir sind dann mit leeren Taschen wieder nach Hause gekommen. Mutter war nicht begeistert, aber so war es halt. Und so ging es den Kaltentalern öfters. Lange in der Schlange gestanden – und dann war nichts mehr da. Man war glücklich, wenn man überhaupt noch ein bisschen was nach Hause gebracht hat. So wählerisch beim Einkaufen sein wie heute ging damals nicht. Auch Brot gab es nur auf Marken. Und Kleidung, sogar Wolldecken. Vieles hat man damals selbst genäht. Wenn man es konnte – das war dann ein großes Glück. Ich weiß noch, dass meine Großmutter aus Wolldecken schöne Mäntel genäht hat. Schuhe (natürlich auch auf Marken) waren ein großes Problem, gerade bei den Kindern. Die wuchsen ja ständig. Und es gab eben nur ein Paar für jeden. Wenn sie kaputt waren, kamen sie zum Schuster. Heute wirft man sie einfach weg. Dinge wegzuwerfen, war früher undenkbar. Gerade Kleidung wurde immer wieder repariert und ausgebessert.
An den Luftangriff vom 11.03.1943 kann ich mich noch gut erinnern. Wir haben den Angriff in unserem Gewölbekeller verbracht. Die Bunker waren damals noch nicht alle fertig, so dass es nicht für alle Leute Plätze gab. Ich weiß noch, dass mein Vater mal von der Front kam und ganz entsetzt gefragt hat, warum wir in den Bunker gehen würden. Ein Soldat ginge nie in den Bunker, sondern springe in den nächsten Straßengraben. „Denn wenn Ihr verschüttet werdet, dann erstickt Ihr!“ Das höre ich heute noch. Aber wir hatten keine Straßengräben in Kaltental. Und die Bunker waren zumindest gegen Kriegsende Pflicht. Man durfte beim Luftalarm nicht mehr einfach zu Hause bleiben, sondern musste sofort in den Bunker. Das war alles streng organisiert. Es war fest eingeteilt, wer in welchen Bunker zu gehen hatte. Am Anfang gab es nur den Bunker in der Böblinger Straße. Etwa dort, wo heute der Eisenhard ist. Das war ein riesiger Bunker. Am Anfang wurden die Leute noch vom Bunkerwart zugeteilt. Der hatte das Sagen. „Sie hierhin und Sie dorthin“. Später gab es feste Plätze.
Ich weiß noch, dass es furchtbar eng darin war. Nicht jeder hatte einen Sitzplatz. Manche mussten auch stehen. Wie in der Straßenbahn. Einmal hatte ich Blasen an den Beinen und konnte nicht stehen. Mutter beschwerte sich beim Bunkerwart, das Mädchen bräuchte einen Sitzplatz. Den bekam ich dann auch. Auf Mutters Schoß.
Irgendwann hat der große Bunker nicht mehr ausgereicht. Dann haben sie noch Seitengänge gegraben. Trotzdem hat es nicht gereicht mit den Sitzplätzen. Also hat man dann ein Stück weiter oben auf der gegenüberliegenden Seite der Böblinger Straße einen zweiten Bunker gebaut. Ein Stück weit links vom Zahnarzt Hobbach. Zuerst in den Berg rein, und quer zum Hang war dann die Röhre. Weiter oben Richtung Alte Straße war dann noch ein Eingang. Platz hatten wir nun etwas mehr. Dafür war das Ding nass. Es hat überall getropft. Die Kaltentaler Hänge führen sehr viel Wasser. Wir haben dann Schirme und Regenkleidung im Bunker angehabt. Kalt, dunkel und nass. Das waren schreckliche Stunden. Auch für meine Mutter, die alleine die Verantwortung für uns zwei Kinder trug. Und 1944 kam mit meinem Bruder Jochen ja noch ein drittes Kind dazu.
Mit der Geburt meines kleinen Bruders wurde es auch schwieriger, rechtzeitig in den Bunker zu kommen. Die Flugzeuge haben ja nicht auf uns gewartet. Manchmal waren sie ganz plötzlich da.
Mal am Tag und mal in der Nacht. Der Fliegeralarm kam meist sehr spät. Da hat man die Flugzeuge manchmal schon im Anflug auf Stuttgart brummen gehört, als der Voralarm losging. Und bis zum Hauptalarm waren es oft nur zwei oder drei weitere Minuten. Da sollte man eigentlich schon im Bunker sein. Deshalb ist man auch immer halb angezogen ins Bett gegangen. Da hat jede Sekunde gezählt. Nach dem Krieg habe ich Mutter mal gefragt, was ich jetzt alles zum Schlafengehen ausziehen dürfe. „Jetzt darfst Du alles ausziehen“, hat sie gesagt. Das war ein ganz komisches Gefühl. Jedenfalls rannten wir bei Luftalarm alle immer die Treppe von der Engelboldstraße zur Hauptstraße runter. Mit dem Kinderwagen und dem kleinen Jochen ging das nicht mehr. Wir haben uns dann aufgeteilt. Großmutter, Mutter und ich sind weiterhin die Treppen runter. Mein Bruder Rolf ist dann mit dem Kinderwagen die Engelboldstraße lang und die Lenzkircher Straße runter. Unten haben wir uns dann getroffen. Und der Rolf konnte rennen.
Das werde ich nie vergessen, mit welcher Geschwindigkeit er mit dem Kinderwagen angeflitzt kam. Die Leute haben immer gesagt, wenn der Rolf Schöpfer rennt, dann ist es höchste Zeit für den Bunker. War es auch – die Christbäume standen manchmal schon über der Stadt, als Rolf mit dem Kinderwagen die Lenzkircher Straße runtergerannt kam.
Aber immerhin gab es keine Tiefflieger in Kaltental. Mein Mann hat welche erlebt. Der war im Zug, dann sprangen sie alle raus. Die Tiefflieger sind über sie hinweggeflogen und haben geschossen. Danach sind sie wieder umgedreht und haben weitergeschossen.
Am 11.03.1943 wurde unser Haus nicht direkt beschädigt. Aber durch den Luftdruck gingen viele Fenster kaputt. Ich weiß noch, dass die Glasscherben im Schlafzimmerschrank steckten.
Ganz fest, die konnte man kaum rausziehen. Andere Familien hatten nicht so viel Glück wie wir. Eine ganz furchtbare Katastrophe gab es hinten am Ende der Todtnauer Straße. Dort, wo es dann zur Haltestelle Engelboldstraße runtergeht. Ein Haus hat einen kompletten Volltreffer bekommen. Die ganze Familie Wiesenmeier war tot. Die Eltern des Mannes, seine Frau und die drei Kinder. 6 tote Menschen. Ach, war das eine Tragödie. Nur der Mann hat überlebt, weil er im Krieg an der Front war. Das Haus war erdbodengleich. Und durch den Luftdruck war fast jedes Haus in der Straße beschädigt. Aber das war natürlich nicht vergleichbar mit dem schlimmen Schicksal der Wiesenmeiers. Und das waren so liebe Leute.
Auch eine weitere Familie ist bei diesem Luftangriff ums Leben gekommen. Die Familie Klein hatte in der Burgstraße eine Gärtnerei. Man erzählt sich, dass die Gewächshäuser das Licht der von den Bombern abgeworfenen Christbäume gespiegelt hätten. Daher wären wenig später dorthin die Bomben abgeworfen worden.
Jedenfalls sind die Ehefrau des Besitzers, seine Mutter und die beiden Schwestern ums Leben gekommen. Die ganzen Arbeiter waren auch tot. Kriegsgefangene. Wie viele es waren, weiß ich aber auch nicht mehr. Eine Freundin von mir hat später erzählt, dass die Toten mit aufgedunsenen Gesichtern auf der Burgstraße gelegen hätten. Überlebt haben nur der Mann und sein Sohn Rudi. Diese waren zu dem Zeitpunkt in Hohenheim, wo sie noch eine weitere Gärtnerei hatten.
Was ich noch ganz deutlich vor Augen habe, ist die brennende Thomaskirche. Sowas vergisst man nie.
Am 11.03.1943 durften wir beim Luftangriff noch im Gewölbekeller sein. Später musste man ja in die Bunker. Als wir nach dem Angriff rauskamen aus dem Keller und in die Wohnung gingen, haben wir die brennende Kirche gesehen. Das durch die Brandbomben ausgelöste Feuer loderte fast kerzengerade hoch hinauf zum nächtlichen Himmel. Durch den Sog ist eine riesige Flamme entstanden. Die Kirche brannte wie eine Fackel. Dieses grausame Bild wirkte auf uns wie ein Hilfeschrei des Turmes, bevor er in sich zusammenbrach. Das ging ganz schnell. Wir standen völlig entsetzt da und konnten es nicht fassen. Das Dach war damals noch nicht aus Kupfer, sonst hätte es nicht so schnell gebrannt. Der damalige Pfarrer Köpf war zwar kriegsdienstverpflichtet, bekam jedoch sofort Heimaturlaub. Er durfte dann mit seiner Gemeinde in der katholischen St. Antonius-Kirche einen Gedenkgottesdienst abhalten. Während der Predigt überwältigte ihn der Schmerz über den Verlust der Kirche und er rief mit hoch erhobenen Armen: „Unsere schöne Thomaskirche“. Dabei liefen Tränen über sein Gesicht. Viele Anwesende weinten mit. Es war eine sehr ergreifende Stunde. Ich habe diesen Gottesdienst nie vergessen.
Nach Kriegsende hat der Schrecken aber nicht aufgehört. Die Bomber waren weg, dafür kamen die Marokkaner nach Kaltental. Ich sehe sie noch mit ihren roten Fez rumlaufen. Das sind so runde Hüte.
Die haben reihenweise die Frauen in Kaltental vergewaltigt. Wie Freiwild. Jeder hat sich genommen, was und wen er wollte. Ständig schlichen sie in den Gärten rum. Sie haben furchtbar in Kaltental gewütet. Das war eine ganz schlimme Zeit. Und die armen Frauen konnten mit niemandem drüber sprechen. Weil sie sich geschämt haben. Ich habe meine Mutter mal gefragt, was eine Vergewaltigung ist. Ich war ja erst zehn Jahre alt. „Na ja, halt Gewalt antun“, sagte sie. Uns ist Gott sei Dank nichts passiert. Aber einmal war es sehr knapp. Mutter und ich waren in der Diele. Plötzlich sehen wir durchs Fenster, dass ein Marokkaner um die Ecke kommt. Man hat sie ja an ihren roten Hüten schnell gesehen. Wir sind dann sofort unters Fenster gesprungen und haben uns versteckt. Und der Marokkaner konnte nicht direkt ans Fenster kommen, weil davor der betonierte Notausgang des Gewölbekellers war. Irgendwann ist er dann wieder abgezogen.
Viele denken ja, dass Stuttgart von den Amerikanern erobert worden ist. Aber das stimmt gar nicht. Zu Anfang kamen die Franzosen mit den Marokkanern in die Stadt. Ich erinnere mich noch, als die französischen Militärfahrzeuge die Alte Straße runtergefahren kamen. Das war wohl eine Vorhut zum Auskundschaften der Lage. Sie sind dann die Burgstraße hochgefahren. An der katholischen Kirche vorbei, den Burggrafenweg hoch und dann weiter nach Möhringen. Eine Freundin hat berichtet, dass später dann die französischen Panzer den Burggrafenweg und die Burgstraße runtergerollt kamen. Ich muss immer dran denken, dass eine Freundin während des Krieges gesagt hat: „Wartet nur ab, bis die Amerikaner die Alte Straße runterkommen“. Tja, sie hat Recht gehabt. Nur waren es eben die Franzosen.
Nach dem Krieg normalisierte sich das Leben nur sehr langsam. Nahrungsmittel und Heizmaterial waren weiterhin sehr knapp. 1948 kam dann die Währungsreform. Das neue Geld wurde in der Schule verteilt. Ich durfte mitkommen. Mein Vater hat dann jedem Kind 5 Mark gegeben. Eigentlich ging es uns gut, denn das Haus war unzerstört und schuldenfrei. Das war längst nicht in jeder Familie so. Manche hatten nur noch einen Trümmerhaufen und trotzdem hohe Schulden. Allerdings musste jeder, der Besitz hatte, einen Lastenausgleich an den Staat bezahlen. Also haben auch wir noch jahrelang den Lastenausgleich zahlen müssen. Das Geld haben dann über ein Umlageverfahren jene bekommen, die im Krieg ihr Vermögen verloren hatten. Am 03.04.1949 bin ich konfirmiert worden. Weil die Kirche noch kaputt war, haben wir den Gemeindesaal zur Einsegnung genutzt. Der war notdürftig repariert. Dort hat man auch die Gottesdienste gefeiert. Und am 21.01.1956 wurde ich in der Kirche getraut. Da war sie aber schon wieder aufgebaut mit ihrem schönen grünen Kupferdach.
Aufgezeichnet von Sören Hildinger